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ÖDP-Forderung zwei Lehrkräfte pro Klasse - Druckversion

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ÖDP-Forderung zwei Lehrkräfte pro Klasse - rjmaris - 15.06.2014 18:52

Seit längerer Zeit ist es eine Forderung der ödp-NRW, dass in jeder Klasse zwei pädagogische Kräfte anwesend sind. Dieses Ziel ist "Dank" der Inklusionsbestrebungen im Prinzip erreichbar. Aber der Reihe nach. Vor kurzem schrieb ich beim Thema Inklusion:

(11.06.2014 20:01)rjmaris schrieb:  [...] und stelle fest, dass so einige interessante Titel drin stehen, z.B. "Kinder brauchen Erziehung: Die vergessene pädagogische Verantwortung". Aus einem kleinen Kreise von Erzieherinnen bekomme ich mit, dass in nur wenigen Jahren sehr viele Kinder in Schulen rumlaufen, die offenbar gar nicht erzogen werden. Aber das ist wieder ein anderes Thema...

Ich ergänze nun: Heute auf einer Veranstaltung fragte ich ein mir bekannter Grundschullehrer nach seinen Erfahrungen mit den "heutigen" Kindern. Er war überraschend deutlich. Es ist ein Phänomen der vergangenen 5-8 Jahren, dass Schulkinder im Schnitt deutlich problematisch geworden sind. Eine Erscheinungsform besteht darin, dass Kinder heute eher ungehalten werden, wenn z.B. etwas verlangt wird, was nach dem EIGENEN Empfinden zuviel gefragt ist.

Wir haben uns kurz über mögliche Faktoren unterhalten. Smartphone, Internet, geänderte Nahrung, usw.
Später fügte meine Frau noch geänderte Prioritäten seitens der Eltern hinzu. Früher war für sie verlass darauf, dass ihr Vater kurz nach 5 zuhause war (und Mutti sowieso). Vater kümmerte sich abends um Begleitung bei den Hausaufgaben, wo dies nötig war. Und heute haben viele Eltern wohl andere Prioritäten, und die Kinder sind eben nicht an erster Stelle. Sie merkte an, dass Alleinerzieher an sich nicht das Problem sind, denn nach dem Krieg gab es viele alleinerziehende Mütter. Es kommt auf die Prioritäten an.

Beim Schreiben fällt mir ein, dass ich mal einen Artikel gelesen habe, in der die Rede davon war, dass Mutter mit Buggy am spazieren war, und ständig mit dem Mobiltelefon hantierte und Gespräche führte.

Unsere heutige Arbeitsgesellschaft möge auch eine Rolle spielen, denn auch wenn Eltern während der Erziehungszeit gerne die "klassische" Rollenverteilung haben möchten, können viele aufgrund des Verhältnisses zwischen Arbeitslohn und Lebenshaltungskosten eine solche Entscheidung gar nicht mehr frei treffen.

Der soeben angesprochene Grundschullehrer sieht zumindest eine Teillösung darin, dass in jeder Klasse zwei Lehrkräfte anwesend sind. Denn heute sind Lehrer überfordert mit der Situation, und laufen eher Gefahr, auszubrennen.

Im Augenblick sieht es danach aus, dass das beschriebene Problem (dass auch - und gerade? - in der OGS stark präsent ist) in weiten Kreisen bekannt ist, nur nicht in der Politik. Die würde Jahre brauchen, eine Kurskorrektur einzuleiten.

Muss die ÖDP als außerparlamentarische Partei versuchen, hier eine Vorreiterrolle zu spielen?


RE: ÖDP-Forderung zwei Lehrkräfte pro Klasse - Felix Staratschek - 15.06.2014 22:00

Das ist ja letztlich genau das, was uns Bindungsforscher vorhergesagt haben.

http://de.wikipedia.org/wiki/Bindungstheorie


RE: ÖDP-Forderung zwei Lehrkräfte pro Klasse - rjmaris - 19.06.2014 11:07

Aus http://www.zeit.de/2014/24/inklusion-schule-gutachten :

Zitat:An schlechten Tagen wirft Lea* ihr Heft durch die Klasse und schreit: "Nein, mach ich nicht!" Aufgaben, die ihr zu schwierig vorkommen, fängt sie dann gar nicht erst an.
[...]
Lea lebt mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung in Hamburg. Die Eltern haben wenig Geld. Leas Vater lässt sich in der Schule nie, die Mutter nur selten blicken. Dass Lea im Unterricht besondere Aufmerksamkeit braucht, könnte auch daran liegen, dass sie zu Hause nicht genug davon bekommt.
Das ist ein typisches Beispiel im Sinne meines Einstiegsbeitrages.
Ich merke dazu an, dass ich mitbekommen habe, dass (bezahlter) Nachhilfe-Unterricht inzwischen Überhand genommen hat. Überall wird Werbung dafür gemacht. Dieser Unterricht scheint normal geworden zu sein. Was sagt uns das?

Zitat:Experten sind sich auch darüber einig, dass inzwischen mehr Kinder mit großen Schwierigkeiten in die Schule kommen. Und gerade Schüler mit auffälligem Verhalten, die andere ärgern, schlagen, sich dem Lernen verweigern, ließ man bisher vielleicht noch ohne "Etikett" mitlaufen. Doch die Toleranzschwelle der Lehrer sinkt, wenn neben diesen Schülern noch andere in der Klasse sitzen, die nach mehr Aufmerksamkeit rufen.

Immerhin: Experten sind sich also im Klaren über das zunehmende Problem verhaltensauffälliger Kinder. Nebenbei angemerkt: die im Vorbeitrag angedeutete Tiefenursache erscheint mir plausibel, gemäß des Wissens darum, dass etwa die ersten vier Lebensjahren entscheidende Jahre für die Entwicklung eines Menschen sind.

Zur Feststellung im Zitat: Das ist gut so, und gleichzeitig ist es traurig, das erst die Inklusionswirklichkeit das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

Zitat:Etliche Fachleute fordern eine Doppelbesetzung für eine Klasse mit 20 Kindern
Die ÖDP steht also nicht alleine mit Ihrer Forderung.


RE: ÖDP-Forderung zwei Lehrkräfte pro Klasse - Felix Staratschek - 20.06.2014 00:07

Wie geht das eigentlich mit zwei Lehrkräften? Es kann doch immer nur eine Person reden. Und selbst wenn die zweite Kraft flüstert, sind doch dann die anderen Schüler abgelenkt! Oder sollte man besser die Klassengröße halbieren?

Und wenn es immer mehr Nachhilfe gibt, weil die Schule es nicht mehr schafft den Stoff zu vermitteln, dann fragt man sich, ob nicht auch Zu- Hause- Unterricht generell möglich wäre? Als nachhilfe ist der ja Alltag. da gehen Kinder in die Schule, raffen da nichts, schmeißen da eine ganze Stunde Unterricht weg, die denen nichts bringt und holen das dann in einer Zusatzstunde bei individuellen Unterricht zu Hause nach, die zulasten ihrer Freizeit geht.

Aber die Nachhilfe- Stunden haben einen entscheidenden Nachteil, Eltern müssen sich diese leisten können oder ein einsehen haben, dafür auf anderes zu verzichten. Wo das nicht gegeben ist, fallen Schüler durch das Raster.

Ich bin der Auffasung, wir brauche ein sehr gegliedertes Schulsystem, wo man Lerntypen der Schüler ermittelt und Schulen schafft, die an das Lernverhalten der Kinder angepasst sind. Die Schulen sollten möglichst die gleichen Bildungsziele haben, aber unterschiedliche Wege dahin gehen. Das kann auch heißen, dass Schüler in die Nachbarstadt fahren, wenn dort die Schule ist, deren Lehrkonzept am besten auf die Kinder zugeschnitten ist.

Nur ist das Problem, dass so eine Differenzierung so viele Schüler voraussetzt, wie diese für eine langfristig stabile Gesellschaft nötig wären. Und die haben wir nicht. Deshalb wird es in vielen Orten Gesamtschulen geben müssen, mit Leistungskursen, die zu einer 3- Jährigen Oberstufe führen und anderen Kursen oder Klassen, die annalog zu Real- und Hauptschule geführt werden, wobei eine Qualifikation für die Oberstufe oder ein Qualifizierungsjahr für die Oberstufe dazu gehören. Um ein vielfältiges Lehrangebot bei geringer Kinderzahl anbieten zu können, wird es in kleineren Orten keine andere Alternative, als die Gesamtschule geben. 

Aber in Großstädten, wo die Wege von einem Stadtteil in den anderen kurz sind und ein guter ÖPNV besteht, da könnte es viel mehr Schultypen geben, als heute. Neben der G 8 und G9 (bis Klasse 13) könnte es auch für langsamere Lerntypen die G 11 geben. Wichtig ist doch, was an Wissen vermittelt wird und nicht ob dafür ein paar Jahre mehr oder weniger benötigt werden. 

Ich selbst würde mich den Langsam- Lernern zuordnen, die immer wieder Wiederholungsphasen brauchen und Zeiten, das gerade gehörte zu verarbeiten und durch mehrfaches Wiederholen sicher abzuspeichern. Geht der Unterricht zu schnell weiter, fällt mir das gerade gehörte wieder runter und dann verliere ich den Faden. Und so musste ich in der Oberstufe auch Mathe- Nachhilfe bekommen, weil ich beim Unterricht den Anschluss verloren hatte und es keine Zeiten gab, gerade aufgenommenes einzuprägen und sicher zu speichern. Die Mathe- Lehrerin wörtlich: "Wenn ich euch zu schnell bin, macht es zu Hause langsamer". Aber sie hatte für jeden scjwachen Schüler immer einen Nachhilfelehrer zur Hand. Ich hätte mir diese Schulstunden, die ich dann nur pflichtgemäß abgesessen habe, auch schenken können, um gleich zu Hause Mathe- Privatunterricht zu nehmen.


RE: ÖDP-Forderung zwei Lehrkräfte pro Klasse - Jürgen Koll - 05.07.2014 18:20

Eine zweite Lehrkraft kann z.B. dafür genutzt werden, mit einer Gruppe den Raum zu verlassen und mit dieser gesondert ein Thema zu bearbeiten, i.d.R. sind das dann Schüler mit besonderem Förderbedarf. Soll heißen: Der zunehmende Trend zu gemeinsamem Lernen und Inklusion führt zu Situationen, denen eine Lehrkraft nicht mehr gewachsen ist. Daher muss man sich etwas einfallen lassen. Die Klassenstärken zu halbieren halte ich auch für eine sehr gute Lösung, in der Praxis vielleicht sogar einfacher umzusetzen. Zwar gibt es Studien, die keinen messbaren Effekt kleinerer Klassen auf den Lernerfolg ausweisen, doch werden Lehrer in der Praxis schon beim Fehlen von zwei, drei verhaltenskreativen Schülern oft von einem wesentlich besseren Lernklima in der Klasse berichten können. Nebenbei: Eine Kollegin mit rumänischem Migrationshintergrund erzählte mir, dass sie in ihrer Heimat eine Klassenstärke von 40 hatten – und es funktionierte! Da sind wir wieder beim Thema Erziehung.

Neben dem Thema Erziehung halte ich auch Winterhoffs Thesen für bedeutend in diesem Zusammenhang. Er sieht das Problem weniger in der Erziehung, sondern darin, dass Erwachsene Kinder vermehrt nicht mehr als Kinder sehen, sondern als Partner, was seiner Meinung nach der psychischen Entwicklung der Kinder schadet.

Ich glaube schon, dass der Politik die Probleme in den Schulen bewusst sind. Allerdings kann der Staat keinen Einfluss auf die Erziehung der Kinder nehmen bzw. auch nicht darauf einwirken, wie Eltern ihre Kinder sehen. Er kann gute Rahmenbedingungen für Familien schaffen, mehr aber auch nicht. Und da, wo er einwirkt, nämlich in der Schule, folgt er eher einem Zeitgeist, der die Probleme verstärkt oder schafft.

Ich denke, man kann in der Schulpädagogik zwei Ausrichtungen erkennen.

Die eine Ausrichtung setzt Differenzierung mit Diskriminierung gleich. Im Idealfall sollen alle Schüler zusammen lernen (Gemeinschaftsschulen, Inklusion total). Schule soll Spaß machen, Noten (vor allem Kopfnoten) werden als demotivierend und beschämend empfunden, Sitzenbleiben bringt nichts, die Schüler sollen möglichst frei und selbstbestimmt lernen. Frontalunterricht ist schlecht, alle Formen von Gruppenarbeit oder kooperativem Lernen sind gut. Hier steht der Schüler mit seinen Wünschen und Interessen im Mittelpunkt. Der Lehrer wird zunehmend eher als Coach und Lernpartner gesehen. Da fällt mir wieder Winterhoff ein...

Die andere Ausrichtung setzt auf Differenzierung. Alle Schüler sind gleich viel wert, aber nicht gleich. Der gemeinsame Unterricht wird als problematisch angesehen, weil dieser letztlich keinem Schüler gerecht werden kann. Schule kann, muss aber nicht Spaß machen. Noten werden als schlichte Rückmeldung darüber gesehen, wie ein Schüler in einem Fach steht, sie sagen nichts über seinen Wert als Mensch aus. Sitzenbleiben kann in bestimmten Fällen notwendig sein. Der Lehrer ist als Planer und Gestalter des Unterrichts wichtig, er ist keinesfalls Partner des Schülers. Bedürfnisaufschub, Selbstkontrolle und Frustrationstoleranz müssen eingeübt werden.

Die zweite Ausrichtung dürfte eher konservativen Menschen entgegen kommen. Sie kommt mit wesentlich weniger Glamour daher. Die erste Position dürfte eher einen progresseiven, linken Geschmack treffen. Sie hört sich moderner und visionärer an, einfach gut.

In diesem Zusammenhang möchte ich nocheinmal einen interessanten Kommentar verlinken: CDU sagt linker Schulpolitik den Kampf an


"Die Union hat es jahrzehntelang versäumt, sich offensiv zu dem zu bekennen, was die eigentliche Grundlage dieser Erfolge war: ein realistisches, konservatives Menschen- und Gesellschaftsbild, das von der Verschiedenheit der Begabungen ausging – also auch die Grenzen der Bildbarkeit junger Menschen bedachte."

und

"Die anhaltende Attacke gegen dieses gegliederte Schulsystem, der die Union nur ganz verhalten Widerstand leistete, wird dagegen getragen vom linken Gleichheitstraum der praktisch unbegrenzten Bildbarkeit aller Menschen.
Der Akademisierungswahn, der daraus erwuchs, hat mittlerweile zu einer galoppierenden Inflation der Bildungsabschlüsse geführt. Und zum Gegenteil der gleichen Chancen, die sich Sozialdemokraten wünschen: nämlich zu einer wachsenden Zahl teurer Privatschulen, die tatsächlich jene Exklusivität schaffen, die das alte Gymnasium nie bedeutete."